Narben – Betrachtungen

Oberflächliche und tiefe Schichten

Die Narbe. Von außen betrachtet reichen die Erscheinungsformen von klein über groß, von unauffällig weiß bis wulstig rot. Manche präsentieren sich taub, andere wiederum sehr schmerzempfindlich und sensibel. Wieder andere sind wetterfühlig. Manche Narben lassen sich angreifen, manche wollen das überhaupt nicht. Allein das pure Anschauen kann Unbehagen auslösen. Manche werden auch einfach verdrängt. Geheilt, zu und vergessen.
„Eine Narbe ist minderwertiges Bindegewebe“ sagt die Medizin. So gewinnt das Narbengewebe, das generell den entstandenen Defekt so schnell wie möglich heilen soll, nur 80% seiner ursprünglichen Elastizität wieder. Von außen betrachtet.

Unter der Haut zeigt sich ein anderes Bild. Im gesunden Bindegewebe gibt es da ganz viele Fasern aus Kollagen, sogenannte Fibrillen, die miteinander kommunizieren, Informationen weiterleiten, sich flexibel in alle Richtungen und Dimensionen verschieben, bewegen und Kräfte übertragen. „Ein schillerndes, dreidimensionales, chaotisches Netzwerk“ sagt Guimberteau, ein Chirurg, der mit Aufnahmen von Bindegewebe in seinen phantastischsten Formen ein Buch gefüllt hat (Buch: Faszien – Architektur des menschlichen Fasziengewebes). Wunderbar und faszinierend anzusehen. Ein Kunstwerk des Körpers, das alles durchzieht, miteinander verbindet und uns die Form gibt. Dazwischen liegen flüssigkeitsgefüllte Ballons – sogenannte Mikrovakuolen – die Druck abfangen und sich elastisch an unterschiedliche Druck und Spannungsverhältnisse anpassen. Alles zusammen: extrem widerstandsfähig und flexibel zugleich.

Entsteht durch eine Beschädigung, ein Trauma, eine Operation ein Defekt, eine Wunde, wird dieser vom Körper geheilt. In mehreren Phasen durchläuft der Körper unterschiedliche Stadien, in denen zuerst eine Entzündung ausgelöst wird, die die Fremdkörper beseitigt, die zerrissene Strukturen flott verklebt, dann festigt und schließlich wieder neu strukturiert, je nachdem was gerade gebraucht wird und welche Kräfte zu diesem Zeitpunkt auf das betroffene Gewebe einwirken. Da kann es dann schon mal passieren, dass die ursprünglich feinen Fibrillen durch dicke, straffe und wie zerborstenen Schiffsmasten aussehende Fasern ersetzt werden. Dass Ruhigstellung des flexiblen und dynamischen Netzwerkes zu starren Strukturen und Unbeweglichkeit führt. Dass Spannungen und Knoten im Gewebe zurückbleiben, wo eigentlich Verschieblichkeit innerhalb und zwischen der Gewebeschichten erforderlich wäre. Von innen betrachtet.

Eine Narbe kann in der Außenansicht toll verheilt sein und von innen einem Schlachtfeld gleichen, mit völligem Verlust der dynamischen und flexiblen Fähigkeiten, die ein gesundes und lebendiges Bindegewebe ausmachen. Allgemein betrachtet.

Im besten Fall schafft der Körper das Wunder und heilt die Wunde optimal. Das heisst, er stellt gleichzeitig Stabilität und Flexibilität wieder her, ermöglicht dass die Gewebeschichten trotz Trauma, trotz Verklebungen und Verwachsungen und Adhäsionen wieder so zueinander gleiten können und verschieblich sind, dass wir die Beweglichkeit und Flexibilität unseres Körpers annähernd so gut ausschöpfen können wie vorher – im Innen und Aussen.

Eine Narbe ist immer Teil unserer Lebensgeschichte und oft mit einem Trauma verknüpft. Wie sie im Innen und Außen tatsächlich „aussieht“, erfährt man nur durch Hingreifen und Begreifen. Realistisch betrachtet.